Näher am Kern der Dinge, Giulia Bernardi

Artikel Kunstbulletin 1-2 / 2022

Geht es noch weiter? Vielleicht noch ein Stück? Christoph Eisenring destilliert, komprimiert, kocht herunter – bis es nicht mehr geht. Aus der Reduktion entfaltet sich eine spielerische Ambivalenz, die das kleine Reiskorn zum hellen Stern werden lässt. Die aktuelle Ausstellung in der Galerie Gisèle Linder gibt einen Einblick in das Schaffen des Künstlers.

Ein weisser Punkt auf schwarzem Grund, von unten nach oben fotografiert? Wie ein Stern am dunklen Himmel. Ein Zirkel balanciert auf einem seiner Schenkel, in der Mitte jenes Kreises, den er gerade gezeichnet hat; der zweite Schenkel scheint ihm zu fehlen – wird er kollabieren? Nicht unweit dieser Bilder steht eine kleine Kugel auf ihrem Podest; stolz, aus weissem Material, vielleicht aus Marmor oder Granit.

Die Ausstellungssituation, die uns in der Galerie Gisèle Linder begegnet, ist reduziert, luftig – hätte man mehr weglassen können? Einige installative und skulpturale Werke stehen im Raum, an den Wänden hängen monochrom gehaltene Fotografien und Collagen, Zeichnungen aus dünnen Strichen mit Bleistift, Abdrücke von Objekten, die in Gips gegossen wurden.

Gedanken reisen

Ein Ort, in den wir hineinatmen können, wobei unser Atem mehr Raum einzunehmen scheint als die Werke selbst. Und diesen nähern wir uns, gehen einen Tanz mit ihnen ein und merken: Wir kennen die Schritte nicht, werden überrascht, ins glasklare kalte Wasser geworfen. Annahmen erweisen sich als irrtümlich, Erwartungen bleiben unerfüllt. Denn der helle Stern, den wir zuvor auf der grossformatigen Fotografie betrachteten, entpuppt sich als ‹stehendes Reiskorn›, das aus der Vogelperspektive fotografiert wurde. Der Kreis des Zirkels ist ein Oval, wirkt nur kreisförmig durch die gewählte Perspektive. Und die kleine Kugel aus Marmor? Sie besteht aus Salz und Zucker. Und so wird das, was für die Ewigkeit geschaffen zu sein schien, plötzlich fragil, einfach wegzuspülen. «Diese Ambivalenz interessiert mich», sagt Christoph Eisenring, während wir über seine Werke sprechen, Abbildungen von ihnen vor uns auf dem Tisch ausgebreitet haben. «Ich finde es faszinierend, dass ein Reiskorn, das klein und nahe ist, im selben Moment als Stern erscheinen kann, der weit entfernt und unerreichbar ist.» Auf dieses Wechselspiel verweisen auch die Titel, die einerseits entlarven, was sie bezeichnen, andererseits den Objekten eine neue poetische Ebene hinzufügen, die unsere Gedanken reisen lässt. So trägt etwa die Kugel aus Salz und Zucker den Titel ‹Weisser Zwerg› und verweist auf das Endstadium eines Sterns, bevor er verglüht. Diese weissen Zwerge können so klein sein wie der Mond und gleichzeitig doppelt so viel Masse wie die Sonne aufweisen.

Christoph Eisenring komprimiert, reduziert aufs Wesentliche. Was es nicht unbe- dingt braucht, wird weggelassen, keine persönliche Handschrift, keine verfälschten Dimensionen. Es mag widersprüchlich wirken, doch genau durch diese Reduktion erscheint das Bekannte plötzlich unbekannt und lässt jene Ambivalenzen entstehen, die ihn interessieren. «Ich frage mich: Wie weit kann ich gehen? Kann ich die Linie noch dünner zeichnen?» Von dieser Überlegung zeugt auch die Zeichnung ‹Haube oder Glocke›, deren Striche so subtil sind, dass sie fast zu verschwinden scheinen. «Es mag sich etwas pathetisch anhören, aber vielleicht gelange ich so näher an den Kern der Dinge, zu ihren kleinen Wahrheiten.»

Die Assoziationen zu seinen Werken ragen vom Konkreten bis ins Abstrakte. Wenn wir den Abdruck eines Triangels in Gips betrachten, denken wir unweigerlich an den Klang, den dieser einst produzierte. So offenbart sich jene Zeitlichkeit, die nie ganz erforscht werden kann. Und gleichzeitig scheint es, dass im Gips etwas konserviert wird, als ‹Zukünftiges Fundstück›, wie der Ausstellungstitel impliziert.

Seit seinem Studium in bildender Kunst, das er in Bern und Basel absolvierte, beschäftigt sich Christoph Eisenring mit unterschiedlichen Medien und Materialien. Doch die Arbeitsweise scheint immer ähnlich; alles muss reduziert werden, ein ungeschriebenes Gesetz. «Dieser Aspekt begleitet mich seit jeher.»

Die Reduktion macht sich nicht nur in seiner aktuellen Ausstellung bemerkbar, sondern auch in vergangenen raumgreifenden Installationen. Etwa im Rahmen der Ausstellung ‹Konkretes Feld›, die 2018 im o.T. Raum für aktuelle Kunst in Luzern zu sehen war, unterteilte er den grauen Boden minutiös in gleich grosse Quadrate, dessen Ecken er abwechselnd mit kleinen weissen Kügelchen und lackierten Scheibchen aus Stahl markierte. Die Bewegung der Besucherinnen und Besucher wurde zum zentralen Element, das durch die Markierungen vermessen wurde. Und gleichzeitig musste jede Bewegung vorsichtig sein; denn was, wenn man aus Versehen gegen eine Kugel stiess, auf eine kleine Platte trat, die am Schuh kleben bleiben würde? Die Installation drohte in Sekundenschnelle zu kollabieren – wie das stehende Reiskorn oder der scheinbar einschenklige Zirkel. Und auch die Wahrnehmung war keineswegs stabil, sondern veränderte sich: Mal fielen die diagonalen Linien ins Auge, mal waren die Kugeln und Scheiben nicht mehr voneinander unterscheidbar.

Bis zum Mond

Auch in der Ausstellung ‹Skeptischer Raum›, die anlässlich des Manor Kunstpreises Zürich stattfand, den Christoph Eisenring 2017 erhielt, lotete er die Bedingungen des musealen Raums aus. Im Kunst Museum Winterthur klebte er auf Fassade und Wände subtile Markierungen, welche die Architektur aufgriffen. Das Herz der Ausstellung befand sich im zentral gelegenen Sammlungssaal des Museums, in dem üblicherweise die Bilder des Impressionismus zu sehen sind. Dieser Raum war nur ausserhalb der Öffnungszeiten zugänglich. Er war mit schwarz-weiss gemustertem Stoff ausgekleidet und wurde nur schwach durch das Oberlicht erhellt. In der beinah vollständigen Dunkelheit schienen die Muster der Stoffe auf einmal zu flimmern und mit jeder Bewegung des Publikums ineinander zu verschmelzen. Christoph Eisenring weiss unsere Wahrnehmung zu erforschen und herauszufordern. Aufmerksam beobachtet er seine Umgebung, merkt sich jene physikalischen oder mathematischen Gegebenheiten, die unsere Vorstellungskraft sprengen, aber dennoch da sind, dennoch existieren. Wo befindet sich der Schwerpunkt des Reiskorns, bevor es fällt? Oder anders formuliert: Wann werden die zwei goldenen Ringe herunterrollen, die für die Installation ‹Relative Laufbahn› auf den obersten Punkt eines grösseren Rings platziert wurden?

Christoph Eisenring denkt nach, betrachtet ein weisses Blatt, das vor ihm liegt, nimmt es in die Hand, faltet es einmal, dann zweimal. «Wenn ich dieses Blatt fünfundvierzigmal falten könnte, wäre es so dick, dass es bis zum Mond reichen würde. Wusstest du das?»